Mittwoch, 22. Februar 2017

Im vierunddreißigsten Kapitel

... eines der besten Romane der deutschen Literatur (die an guten Romanen doch keineswegs arm genannt werden kann!) kommt es im Anschluß an eine Hochzeitsfeier unter den in einem Lokal zum »Nachglühen« (wie man heute sagen würde) befindlichen Gästen zu einer durchaus heftigeren Auseinandersetzung:
»Unter diesen Umständen«, bemerkte hier Baron Planta, »will es mir als ein wahres Glück erscheinen, daß Herr von Szilagy, wie ich höre, mehrere Eisen im Feuer hat. Was ihm die Novellistik schuldig bleibt, muß ihm die Malerei bringen.«
»Was sie leider bisher nicht tat und mutmaßlich auch nie tun wird«, lachte Szilagy halb wehmütig, »trotzdem ich vom Genrebild aus, mit dem ich anfing, eine Schwenkung gemacht und mich unter Anleitung meines Freundes Salzmann neuerdings der Marinemalerei zugewandt habe. Mitunter auch Bataillen. Und was die blauen Töne betrifft, so darf ich vielleicht behaupten, hinter keinem zurückgeblieben zu sein. Habe mich außerdem in Gudin und William Turner vergafft. Aber trotzdem...«
»Aber trotzdem ohne rechten Erfolg«, unterbrach hier Cujacius, »was mich nicht wundernimmt. Was wollen Sie mit Gudin oder gar mit Turner? Wer das Meer malen will, muß nach Holland gehn und die alten Niederländer studieren. Und unter den Modernen vor allem die Skandinaven: die Norweger, die Dänen.«
Wrschowitz zuckte zusammen.
»Wir haben da beispielsweise den Melby, Däne pur sang, der sehr gut und beinah bedeutend ist.«
»O nein, nein«, platzte jetzt Wrschowitz mit immer mehr erzitternder Stimme heraus. »Nicht serr gutt, nicht bedeutend, auch nicht einmal beinah bedeutend.«
»Der sehr bedeutend ist«, wiederholte Cujacius. »Grade darin bedeutend, daß er nicht bedeutend sein will. Er erhebt keine falschen Prätensionen; er ist schlicht, ohne Phantastereien, aber stimmungsvoll; und wenn ich Bilder von ihm sehe, besonders solche, wo das graublaue Meer an einer Klippe brandet, so berührt mich das jedesmal spezifisch skandinavisch, etwa wie der ossianische Meereszauber in den Kompositionen unsers trefflichen Niels Gade.«
»Niels Gade? Von Niels Gade spricht man nicht.«
»Ich spreche von Niels Gade. Seine Kompositionen reichen bis an Mendelssohn heran.«
»Was ihn nicht größer macht.«
»Doch, mein Herr Doktor. Wirkliche Kunstgrößen zu stürzen, dazu reichen Überheblichkeiten nicht aus.«
»Was Sie nicht abhielt, mein Herr Professor, den großen Gudin culbütieren zu wollen.«
»Über Malerei zu sprechen, steht mir zu.«
»Über Musik zu sprechen, steht mir zu.«
»Sonderbar. Immer Personen aus unkontrollierbaren Grenzbezirken führen bei uns das große Wort.«
»Ich bin Tscheche. Weiß aber, daß es ein deutsches Sprichwort gibt: ›Der Deutsche lüggt, wenn er höfflich wird.‹«
»Weshalb ich unter Umständen darauf verzichte.«
»En quoi vous réussissez à merveille.«
»Aber, meine Herren«, warf Pusch hier ein, den die ganze Streiterei natürlich entzückte, »können wir nicht das Kriegsbeil begraben? Proponiere: Begegnung auf halbem Wege; shaking hands. Nehmen Sie zurück, hüben und drüben.«
»Nie«, donnerte Cujacius.
»Jamais«, sagte Wrschowitz.
Und damit erhoben sich alle.
Nun, das Kriegsbeil ist ausgegraben wegen Niels Gade, und soll es im Verlauf dieses Abends auch bleiben. Niels Gade ... nie gehört? Nun, dem Namen nach vielleicht, aber auch Kompositionen? Wohl kaum ...

Und doch: trotz Dr. Wrschowitz' »Jamais« lohnt es sich durchaus, wenigstens ein paar der Kompositionen dieses Dänen, der heute vor zweihundert Jahren, am 22. Februar 1817 geboren wurde, kennenzulernen. Am besten gleich mit seinem op. 1 »Nachklänge von Ossian«, das den 23-jährigen mit einem Schlage über sein Heimatland hinaus bekannt machte:


Auch seine 1. Symphonie in c-moll, op. 5 (zwei Jahre später entstanden, und von Mendelssohn in Leipzig uraufgeführt) fand großen Anklang, und wurde u.a. von Robert Schumann (dem man fehlende Sachkenntnis kaum nachsagen kann) gefeiert:


Manchmal hört man heute noch sein melodiös-melancholisches Violinkonzert d-moll, op. 56, das bereits aus späterer Schaffenszeit (1880) stammt, und seine damalige Beliebtheit, die bis heute nachstrahlt, durchaus verdient:


Nein, man muß diesem fiktiven Dr. Wrschowitz (der, wie der Romanautor früher im Verlauf der Handlung erklärend bemerkt, als nationalbewußter Tscheche darunter litt, daß er zu seinem slawischen Familiennamen den nun wirklich denkbar un-tschechischen Vornamen »Niels« in die Wiege gelegt bekam) doch widersprechen: man sollte über Niels Gade sprechen. Sicherlich, er ist keines der allerersten Gestirne der skandinavischen Musik, und selbst unter den dänischen Komponisten würde ich ihm zwei oder drei andere vorziehen, aber er ist doch ein Komponist mit reicher melodischer Erfindungsgabe und »handwerklicher« Perfektion (was nicht geringgeschätzt werden sollte)!

Als er am 21. Dezember 1890 starb, war er mit seinem »Post-Mendelssohnismus« längst aus seiner Zeit gefallen (weit mehr noch als der jüngere und wohl auch originellere, aber in vielem doch vergleichbare Max Bruch). Aber wer sich einige Stunden durchaus ungetrübten Musikgenusses gönnen will, höre sich bspw. die acht Symphonien (alle auf Youtube verfügbar) an, aber auch sein Streichquartett in e-moll (1877) ist ohne Zweifel eine Wiederentdeckung wert. Und wenn auch, nach einem bekannten Diktum, das Leben des Menschen zu kurz ist, um die knappe Zeit mit schlechter Musik zu vergeuden, so darf doch zu Niels Gades Ehrenrettung gesagt sein: einige Werke von ihm dürfen, ja: sollten selbst in dieser begrenzten Zeitspanne »mit Genuß und Belehrung« untergebracht werden können ...


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P.S.: wer sich gefragt haben sollte, wie die obzitierte, etwas disharmonisch abgebrochene Abendunterhaltung weitergeht: hier werden Sie geholfen.

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