Donnerstag, 9. Mai 2013

Quantum refert, in quæ tempora vel optimi cujusque virtus incidat — Teil I

… schreibt Plinius d.Ä.*), und dieses Zitat als Titel, unter dem eine kleine Reihe von Artikeln in den nächsten Tagen handeln sollen, trifft geradezu erschreckend genau auf das Leben des Protagonisten dieser Artikel zu, zu dessen Gedächtnis am Schluß der Serie ein kurzer Lebensabriß stehen wird — und sein bis heute, nein, nicht »umstrittener« (wie es heute so billig wie heimtückisch als epitheton disornans verliehen wird!), sondern geradezu bis zur damnatio memoriæ verfemter Name genannt werden soll.

Aber lassen wir den Protagonisten dieser Artikel mit eigenen Worten seine weitausgreifenden Vorstellungen und Gedanken darlegen! Sie werden freilich dem Ohr der Heutigen — insbesondere derer, die durch einen »Geschichts«unterricht nach den ideologisch überformten Lehrplänen arrivierter Alt-68er gegangen sind — fremdartiger klingen als die Texte der Veden. Dennoch: es ist den Versuch wert, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, die uns zwar heute so fern scheint — und die dennoch noch von der Großeltern-, wenigstens aber der Urgroßelterngeneration der heutigen Jugend miterlebt und miterlitten wurde. Was zugleich alles über die Geschichtsvergessenheit unserer Gegenwart sagt, die bloße Ideologeme für historische Fakten erklärt, und die Geschichtsforschung in ein Korsett des Opportunismus, der politischen Korrektheit zwängt und jede Abweichung davon bis zur sozialen und moralischen Vernichtung des Wagemutigen (man denke an den perfiden »Historikerstreit« gegen Ernst Nolte) abstraft …

Zum Verständnis der folgenden Textzitate sei vorausgeschickt, daß ihr Verfasser ein katholischer Geistlicher war, und sie, obzwar in den Jahren nach 1945 verfaßt, lange Zeit unpubliziert blieben. Um mir die »Schlußpointe«, also die Lüftung seiner Identität, nicht zu verderben, ersuche ich die Kommentar-Poster, sich mit Mutmaßungen darüber zurückzuhalten (Kommentare zum Inhalt sind natürlich willkommen!), sondern — wie es in wissenschaftlicher Weise eigentlich selbstverständlich sein sollte — die Textzeugnisse unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen. Sie sind es — bei aller Problematik im Detail — durchaus wert! Doch nun geben wir dem ungenannten Verfasser das Wort:
Wieviele Menschen verdammen wir aus der Enge unseres Blickes, aus dogmatischen und moralischen Überlieferungen. Menschen müssen es so machen, weil Weltanschauungen nur Bestand haben, wenn sie kompromißlos verteidigt werden. Gott allein kennt die Zusammenhänge des Lebens und weiß, durch welche Kette von Ursachen, Beweggründen, Leidung und merkwürdigen Zufällen ein Mensch gerade das und nicht etwas anderes geworden ist.

Der Mensch weiß in den seltensten Fällen, wie er in eine bestimmte Lebensaufgabe hineingeraten ist. Das Ausschlaggebende ist fast immer die Zeit, in der man lebt, die geistige Luft, die man als Kind atmet, die Umgebung, in der man aufwächst und die ersten Eindrücke empfängt. Familienrücksichten und Bindungen, gesellschaftliche Auffassungen und Vorurteile. Auch der »Zufall« hat sein Wort zu sprechen, wenn man nicht das göttliche Wesen zur Rolle eines Marionettenregisseurs herabdrücken will. Unter anderen Verhältnissen wäre dieser oder jener etwas anderes und möglicherweise ein Heiliger geworden. Vielleicht hätte er auch in einem anderen Berufe Außergewöhnliches geleistet. So ist er ein Durchschnittsmensch oder nur ein braver Handwerker ohne Möglichkeiten großer Leistungen geblieben […]

Der römische Katholizismus hatte vom 19. zum 20. Jahrhundert sechs große, überragende Geister: Lamennais, Rosmini, Newman, Schell, Romulo Murri und Sturzo. Die beiden ersten und Romulo Murri, der Führer des politischen Modernismus und Mitbegründer der Democrazia cristiana in Italien, wurden das Opfer politischer Intrigen, bevor sie noch anfechtbare philosophische und religiöse Lehren verteidigten. Lamennais und Murri wurden priesterlicher Handlungen für unwürdig erklärt und aus der Kirche ausgeschlossen. Die andern wurden in Rom verdächtigt und in ihrer wissenschaftlichen Überzeugung und Ehre angegriffen. Teilweise kamen sie mit Not an der vollständigen Verurteilung vorbei, Lamennais starb in der Vereinsamung, Romulo Murri hat noch am Totenbett die Rückkehr der vatikanischen Politiker vom Monarchen-Absolutismus zur Demokratie erlebt. Rosmini wird eine spätere Zeit auf die Altäre erheben — und doch waren diese kirchlichen Persönlichkeiten jene wenigen führenden Geister des Katholizismus im 19. Jahrhundert, von denen man sagen kann, daß sie mit neuen Ideen wesentlich dem geistigen Fortschritt der Menschheit über die Konfessionen hinaus gedient haben. Alle Genien des wahren Fortschrittes gleichen aber Meteoren, die brennen, um ihr Jahrhundert zu erhellen.
Nicht wenigen meiner Leser wird das vorstehende Zitat zu langatmig und schlichtweg uninteressant gewesen sein. Es geht darin ja nicht um Geld und Finanzen, nicht einmal um Überfremdung, oder die Machtspiele unserer Politiker — sondern »bloß« um den Geist des Abendlandes. Also um das (und dies pflegen insbesondere Liberale/Libertäre gern zu übersehen), um dessentwillen alles andere, will es nicht sinnloser Selbstzweck bleiben, von Belang ist. Daher sei noch aus der Vorrede seiner Lebenserinnerungen der letzte Absatz zitiert, der heutigen Ohren wohl noch fremdartiger klingen mag — und überaus anstößig in seiner Begrifflichkeit, wie sich von selbst versteht:
In der Einsamkeit […] wandern meine Gedanken in die Vergangenheit zurück, während die Kuppel von St. Peter wie eine trotzige Festungskrönung in der Unendlichkeit des Landes meine Blicke trifft. Je dunkler sich die Gegenwart gestalten will, um so weiter wandern die Gedanken in das Sonnenland der Kindheit und Jugend zurück. Sie grüßen den Morgen eines Priestertums voll Idealismus, sie grüßen auch jene Lebensstrecke, die mich, nachdem ich vielen Eitelkeiten den Abschied gegeben und die Welt völlig überwunden habe, von der Zeit hinweg an das lichte Gestade der Ewigkeit führen wird. So ist dieses Buch ein Confiteor verfehlter Hoffnungen und gescheiterter Versuche. Möge es trotzdem für die gebildete deutsche christliche Jugend dereinst ein Trostbuch sein, tapfer aus dem Dunkel der Gegenwart eines politischen Pharisäertums ins helle Licht reiner Menschlichkeit emporzustreben […] Es ist der nationalbewußte, christlich und sozial modern denkende deutsche Mensch mit seinem Fleiß, seiner Ordnungsliebe, Zähigkeit, Organisationsfähigkeit und Treue, aber auch mit seiner Sehnsucht nach den unvergänglichen Werten des religiösen Gedankens. Dieser Jugend von morgen sei dieses Buch geweiht.
Ich höre in Gedanken schon das geringschätzige Wort von bloßen »Sekundärtugenden, mit denen man genauso gut ein KZ betreiben könnte« — und wer unsere Jugend (wie auch die der letzten Jahrzehnte) ansieht: haltungslos durch eingetrichterte ideologische Geschichtsverfälschungen und gesinnungslos durch das Miterleben-Müssen einer durch und durch opportunistischen, heuchlerischen Politik, lebensunfähig gemacht durch die entmündigenden »Segnungen« eines überbordenden Sozialstaates, der platten Hedonismus und Konsumismus belohnt, und das Streben nach dauerhaften Werten geschickt untergräbt ... ... und überhaupt: »deutsch«! Wie es die GrünInnen Politikerin Claudia Roth definierte: »Deutsche sind Nichtmigranten, mehr nicht!« — nein, es ist leider nicht »die Jugend von morgen«, die der Verfasser seinerzeit ansprechen wollte, und die demnach die Jungend von heute sein müßte, sondern wohl eine von den Dämmerungen noch unbekannter »Morgen« und »Übermorgen« verhüllte. Wenn es sie überhaupt noch geben mag.

(Fortsetzung folgt)

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*) »Wieviel kommt doch darauf an, in welche Zeiten die Tüchtigkeit auch des Besten fällt.«

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